In Gedenken an Dmitriy Petrov

Am 19. April 2023 wurde in einem Gefecht in der Nähe von Bachmut drei Anarchisten getötet: Cooper Andrews, aus den USA, Finbar Cafferkey, aus Irland, und Dmitry Petrow, den wir bisher unter dem Nahmen Ilja Leschy kannten, aus Russland.

Text crimethinc

Einige Wochen vor Kriegsausbruch nahm Dmitry an einem Interview teil, das zu unserer Berichterstattung über die neue Situation gehörte. Am ersten Tag der russischen Invasion hat Dmitry sich unter vermutlich schwierigen Umständen Zeit genommen, mit uns darüber zu sprechen, wie die Anarchist*innen auf die Invasion reagierten. Im Laufe unseres Austauschs im darauffolgenden Jahr waren wir beeindruckt von seiner Bescheidenheit, der Seriosität, mit der er ans Werk ging, und von seiner aufrichtigen Kritikfähigkeit.1

Nach Dmitrys Tod haben seine Genoss*innen offengelegt, dass er an einigen der bedeutendsten anarchistischen Initiativen in Russland im 21. Jahrhundert beteiligt war, darunter die Gründung der Anarcho-Kommunistischen Kampforganisation. Im Folgenden werden wir einen Überblick über sein Wirken geben, das zwei Jahrzehnte des Kampfes in der postsowjetischen Welt umspannte. Im Anschluss ist eine Übersetzung seines Textes «Die Aufgabe des Anarchismus in der modernen Welt» zu finden.

Wolodja Wagner schreibt: «Ich nahm dieses Foto von Dmitry an einem Frühlingstag im Jahr 2018 auf, als er mir die Moskauer Büros der PKK-Vertretung in Russland zeigte. Seit dem Gefecht in Kobanê im Jahr 2014 hat er hier Zeit verbracht, Kurmandschi gelernt und Veranstaltungen zu der Revolution in Rojava organisiert… ich habe ihn als freundlich und bescheiden erlebt, mit scharfem Verstand und jemand, der seine Überzeugungen in die Tat umsetzen will.»

Ein Leben für den Kampf

Einer unserer Kontakte in der russischen anarchistischen Bewegung sagt, Dmitry sei ab seinen Teenagerjahren, ab 2004, an anarchistischen Tätigkeiten in Moskau beteiligt gewesen. Anderen Genoss*innen war er wegen seines Engagements für die Umwelt als Ekolog (Umweltschützer) bekannt, der sich gegen den Bau von Müllverbrennungsanlagen und zur Verteidigung von Bitsevski Park einsetzte. Er war auch Teil von Food Not Bombs und der anarchistischen Gewerkschaft MPST, sowie zahlreichen anderen Initiativen.

Während Dmitry sich aktiver an der anarchistischen Bewegung beteiligte, nahm die Gewalt von Faschistinnen und Polizei gegen sie zu. Sie machten Aktivistinnen, Journalistinnen und sogar ihre Anwältinnen zu Krüppeln oder töteten sie. Fjodor Filatow, Ilja Borodajenko, Timur Kascharawa und Anna Politkowskaja waren nur einige ihrer Opfer. Im Januar 2009 wurden der Anwalt Stanislaw Markelow und die Journalistin und anarchistische Umweltaktivistin Anastasie Baburow im Zentrum von Moskau ermordet. Im Jahr zuvor hatte Dmitry zusammen mit Anastasia Baburowa georgische Flüchtlinge aus Abchasien verteidigt, die im Jasnji proesd in Moskau lebten.
Im nächsten Monat nahm Dmitry an einer klandestinen Aktion mit dem Nahmen «Die Vergeltung des Volkes» teil, die laut einem Bericht ein wegweisender Moment in Russland war:

Der erste Brandanschlag gegen die Polizei einer neuen Generation von anarchistischen Rebell*innen fand in der Nacht vom 19. auf den 20. Februar 2009 statt. Am nächsten Tag wurde ein Video der Gruppe «Die Vergeltung des Volkes» veröffentlicht, in dem zu sehen ist, wie mehrere anonyme Personen Molotow-Cocktails auf Polizeiautos werfen. «Die Vergeltung des Volkes» hat bekannt gegeben, dass zwei Autos zerstört wurden, und ruft dazu auf, dass «jede Person, die Selbstrespekt hat, … sich gegen die Willkür und den Despotismus der Polizei, der Geheimdienste und der Bürokratie wehrt.»

Später half Dmitry bei der Gründung einer anonymen Plattform, auf der solche klandestine Aktionen veröffentlicht werden konnten. Der Black Blog wurde im Mai 2010 aufgeschaltet. Als die anonymen Redakteur*innen im März 2019 das Ende des Black Blogs ankündigten, spielten sie auf die brennenden Polizeiautos vom 19. Februar 2009 an: «Mehr als zehn Jahre sind vergangen, seit wir unsere ersten Molotow-Cocktails auf die Polizei geworfen haben.»

Einer der Brennpunkte rund um Moskau war damals der Chimki-Wald, den Anarchistinnen und Umweltaktivistinnen gegen korrupte Beamtinnen, Holzfällerinnen und von ihnen bezahlte Faschistinnen verteidigten. Am 28. Juli 2010 spitzte der Kampf um Chimki sich zu, als hunderte von Anarchistinnen und Antifaschistinnen zu den lokalen Behörden marschierten, in Reaktion auf einen faschistischen Angriff. Wir wissen nicht, inwiefern Dmitry an diesen Ereignissen beteiligt war. Der anonyme Bericht, denn wir von russischen Anarchistinnen erhalten haben, scheint von einer bekannten Feder zu stammen, aber in einem Interview, sagte eine anonymer Vertreter*in des Black Blogs, dass sie nicht an der Demonstration bei der Stadtverwaltung teilnahmen.

In den darauffolgenden Monaten nahmen die Behörden über 500 Anarchistinnen und Antifaschistinnen fest und folterten sie. Mehrere von ihnen waren gezwungen, aus dem Land zu fliehen. Dies reichte jedoch nicht aus, um die damals starke Bewegung zu beseitigen, wie der schon erwähnte Bericht besagt.

«2009-2012 war der Höhepunkt des anarchistischen Widerstands in der Geschichte der postsowjetischen Region von Russland, Belarus und der Ukraine. Beinahe täglich geschah etwas, besonders in der Region Moskau, Tag und Nacht.»

Im Sommer 2012 fanden über hundert Brandanschläge auf Polizeistationen und Polizeiautos, Militärbüros, Autos von Staatsbeamt*innen und Material, das zur Zerstörung von Wäldern diente, statt. Der Black Blog berichtete über viele dieser Aktionen, darunter diejenigen von anderen Gruppen, an denen Dmitry gemäss Berichten teilnahm, wie der Anti-Naschistischen Aktion (gegen die Pro-Putin-Jugendorganisation Naschi) und ZaNurgalijewa (vermutlich ein ironischer Verweis auf den damaligen Innenminister Raschid Nurgalijew, ein früherer KGB-Beamter).

Am 7. Juni 2011 explodierte beispielsweise eine improvisierte Bombe in der Nähe eines Verkehrsposten auf der Höhe des Kilometers 22 des Moskauer Autobahnrings. Die anarchistische Guerrillagruppe bekannte sich in einem Video auf dem Black Blog zu der Explosion. Gemäss der Anarcho-Kommunistischen Kampforganisation war Dmitry an dieser Aktion beteiligt.

In einem Interview beschrieben Personen, die an der Aktion teilnahmen, unter Pseudonymen ihr Vorgehen detailliert. Hier ein Auszug:

DENIS: Wir haben gerade den Moskauer Autobahnring überquert. Es tagt bereits. Ein Rentner geht schon mit seinem Hund spazieren. Ich muss schon sagen, gemäss den Erfahrungen, die ich bei unseren nächtlichen Ausflügen gemacht habe, ist diese Kategorie von Bürger*innen eine der ersten, die am Morgen auf den Strassen der Stadt auftaucht. Es heisst, dass alte Menschen nur wenig schlafen. Auch wenn unsere Gesichter bedeckt sind, bin ich doch beunruhigt – ein Zeuge kann sich immer an etwas erinnern. Das ist natürlich komplett verrückt – nach einem missglückten Bombenanschlag bei vollem Tageslicht zurückzugehen und das, wenn uns die ganze Nachbarschaftsehen kann. Aber wir haben uns so viel Mühe gegeben – unmöglich, ohne etwas nach Hause zu gehen.

Gehen wir zum Posten zurück. Alles ist noch, wie wir es zurückgelassen haben: ein Becken mit Kohle und ein Zylinder stehen zwischen dem Gitter und der Kabine. Alexei geht bis zum Rand des Betongrabens, zündet ein Streichholz an und wirft es in das Becken. Nichts geschieht. Hat sich das Benzin verflüchtigt? Entmutigt gehen wir zur Brücke zurück. «Hast du wirklich gesehen, wie das Streichholz in das Becken gefallen ist?», frage ich Alexei. «Ja, sah ganz so aus.» «Aber du bist nicht sicher?» «Nein, das bin ich nicht.»

Ein letzter Versuch. Wir gehen zurück. Ich klettere über den Graben, nähere mich dem Gitter, zünde ein Streichholz an, werfe es direkt ins becken und… eine bläuliche Flamme überzieht die Kohle. Es hat geklappt! Jetzt rennen wir, unsere Herzen klopfen wie wild – was, wenn die Explosion uns an einem verdächtigen Ort erwischt? Aber die Freude über den Erfolg verscheucht die Angst.

BORIS: Es tagte schon. Ich bemerkte eine kleine Bewegung hinter der Kabine. Ich schaute genauer hin und sah, dass es das Feuer in den Bäumen war. Es brannte!

Aber plötzlich fuhr ein Auto auf den Parkplatz und beleuchtete die Kabine mit seinen Scheinwerfern. Eine Verkehrspolizistin sprang aus dem Wagen, nahm einen Feuerlöscher und begann, die Flammen zu bekämpfen. Ohne Erfolg. Im Gegenteil, es schien, als würden das Feuer mehr und mehr lodern. Der Verkehrspolizist rannte in den Posten und kam mit einem anderen Feuerlöscher zurück, einem grösseren. Wieder ein Misserfolg – die Flammen wurden immer grösser. Dieder Verkehrspolizistin entschied sich, nichts weiter zu riskieren, und kehrte zum Posten zurück. Die Flammen stiegen schon über das Kabinendach – aber immer noch keine Explosion. Die Kamera, die ich verwendete, hörte schon zum zweiten Mal auf, aufzunehmen; ich drückte wieder auf «Aufnehmen». Polizeiwagen kamen an.

Und dann explodierte es.

Alles wurde von einem Blitz erleuchtet, eine hellorange Flamme schoss fünfzehn Meter hoch. Wir filmten weiter. Autos fuhren vom Posten Weg und dann kamen unsere Genoss*innen zurück. Alexei rief nervös: «Was macht ihr, sie sind hinter uns her!»

Laut einem Post der Anarcho-Kommunistischen Kampforganisation war die Person, die zurückkehrte, um es noch einmal zu versuchen, und der Denis genannt wurde, Dmitry.

Der Bericht schloss mit einer Warnung, wie es später charakteristisch für Dmitrys Texte werden sollte:

Es ist nicht möglich, die Macht von oben herab zu ergreifen und dem Volk die Anarchie aufzuzwingen. Du kannst keine Revolution für sie machen und sie zwingen, in einer neuen Gesellschaft zu leben. Die anarchistischen Ideale werden nur gewinnen, wenn die Menschen ihre Stärke realisieren, wenn sie die Verantwortung für ihr eigenes Leben und für dasjenige ihrer Mitmenschen übernehmen. Deshalb ist das Wichtigste, den Menschen den Glauben an ihre eigene Stärke zurückzugeben.

Die gleichen gesellschaftlichen Spannungen, die diesen klandestinen Aktionen zugrunde lagen, fanden ihren Höhepunkt in grossen Volksanlässen. In ganz Russland nahmen Hunderttausende an der Oppositionsbewegung von 2011-12 teil. Am 6. Mai 2012 endete der «Millionenmarsch» in Kämpfen mit der Polizei auf dem Bolotnaja-Platz in Moskau. Auch hier war Dmitry Petrow gemäss der Anarcho-Kommunistischen Kampforganisation zusammen mit dem Anarchist Alexei Polichowitsch und anderen, die später ins Gefängnis kamen, weil sie Demonstrierende vor der bewaffneten Polizei verteidigten, dabei.

Das war wohl der Höhepunkt der politischen Möglichkeiten in Russland. In den darauffolgenden Jahren hat die Putin-Regierung es geschafft, das Land in den Würgegriff zu nehme und alle Formen des Widerstands systematisch zu zerstören oder sich einzuverleiben. Als wir die Anarcho-Kommunistische Kampforganisation im letzten August interviewten, sprachen sie über die Zerschlagung dieser Bewegung, die am Anfang dessen stand, was schliesslich zur russischen Invasion der Ukraine führte:

Vielleicht hätte die politische Krise von 2011-2012 theoretisch das Ende von Putins Regime bedeuten können, wenn alle Oppositionskräfte geschlossener und entschiedener gehandelt hätten. Die Anarchist*innen versuchten, die Proteste zu radikalisieren, aber unsere Kräfte reichten nicht aus, und die Behörden lancierten die erste, starke Repressionswelle.

Nach den Zusammenstössen auf dem Bolotnaja-Platz nahm Dmitry weiterhin an klandestinen Aktionen und öffentlicher Organisationsarbeit teil. Wie uns die Anarcho-Kommunistische Kampforganisation im schon erwähnten Interview mitteilte:
«Wir wissen, dass es Genossinnen gibt, die lange Zeit ein Gleichgewicht zwischen öffentlicher Arbeit und Untergrundaktionen gefunden haben, und in beiden ziemlich aktiv waren.» 2013 brach einen Proteste gegen die Putin-freundliche Regierung der Ukraine aus, die ihren Höhepunkt in der Ukrainischen Revolution von Februar 2014 fanden. Dass Nationalistinnen die Anarchistinnen und andere anti-autoritäre Aktivistinnen vertrieben und eine wichtige Rolle einnahmen war keinesfalls vorbestimmt; die Dinge hätten anders laufen können, wenn die Anarchist*innen zahlreicher und besser vorbereitet gewesen wären.

Während das Ergebnis des Aufstands in der Ukraine immer noch offen war, reiste Dmitry Petrow nach Kyjw, um am Kampf auf dem Maidan, dem Hauptplatz der ukrainischen Hauptstadt, teilzunehmen. Wladimir Platonenko schrieb:

Im Februar 2014 verbrachte Ekolog [Dmitry] ungefähr zehn Tag auf dem Maidan, er war eigens dafür in die Ukraine gereist. Er half beim Aufbau von Urkdom [dem «ukrainischen Haus», einem Hilfspunkt für Anarchistinnen und Antifaschistinnen während des Aufstands, der am 18. Februar abgebrannt wurde] teil, lieferte Essen an Kämpfenden, auch während der Schlacht vom 18. Februar. Am Ende versuchte er immer wieder, eine anarchistische Position innerhalb der breiten, komplexen und vielschichtigen Maidan-Protest-Bewegung aufzubauen. Er war am Aufbau der «Hundert Linken» beteiligt, schuf eine «anarchistische Abteilung» (mit anarchistischer Literatur in der Bibliothek von Ukrdom, informierte die Maidan-Kämpfer*innen über die Solidaritätskundgebungen in Moskau und über die Gründe zu ihrer Niederlage. Er schwamm nicht mit dem Strom, sondern versuchte nach Kräften, die Orientierung der Bewegung zu beeinflussen.

Die Situation in der Ukraine war nie einfach. In ihrem letzten Beitrag von Februar 2015 schreiben die Herausgeberinnen des Black Blog über die Debatten darüber, ob die Brandanschläge in der Ukraine, über die auf ihrer Plattform berichtet wurde, wirklich gegen den Staat gerichtet waren oder Putin unterstützten. Ohne in eine vereinfachende oder sterile Erzählung zu verfallen, fassten die Autorinnen die Position beider Seiten zusammen, so dass die Lesenden sich ihre eigene Meinung bilden konnten. Das war das letzte Update des Black Blogs. Diese Debatte liess vorausahnen, welche Kontroversehn später stattfinden sollten darüber, welche Position Anarchist*innen angesichts des Krieges zwischen Russland und der Ukraine einnehmen sollten.

Ein Jahr nach seiner Teilnahme am ukrainischen Widerstand veröffentlichte Dmitry weiterhin ein Online-Journal über seine Reisen zu schönen Naturschauplätzen und historisch interessanten Orten, darunter Pärke, Wälder und Museen in ganz Russland. Er schloss ein PhD in Geschichte ab und begann, als anthropologischer Forscher am Zentrum für Zivilisations- und regionalen Forschung des Afrikanischen Instituts der Russischen Akademie der Wissenschaften zu arbeiten.
Von einem Artikel von David Graeber inspiriert reiste Dmitry während des Höhepunkts des Krieges gegen den Islamischen Staat in den Rojava, wo er sechs Monate verbrachte. 2017 sprach er über diese Erfahrung in einem Interview und nahm am Forschungsprojekt Hevale : Revolution in Kurdistan teil, das mehrere Bücher veröffentlichte.

Später publizierte er Arktiel auf der linken ukrainischen Website Commons über die Auswirkungen von COVID-19 auf Rojava und über den Konflikt zwischen konföderierten und imperialistischen Strömungen in Kurdistan.

Laut ukrainischen Anti-Faschistinnen, «befasste er sich vertieft mit der revolutionären Erfahrung der Kurdinnen. Immer kritisch respektierte er sie und versuchte ernsthaft, zu verbreiten, was davon zu lernen war.» Gemäss seinen eigenen Worten versuchte Dmitry «der russischen Linken nicht nur über die soziale Revolution in Kurdistan zu berichten, sondern auch die antiautoritäre Weltanschauung der Kurd*innen zu vermitteln.»

2018 verliess Dmitry Russland. Zu diesem Zeitpunkt hatte Putins Regime die gewalttätige faschistische Bewegung aus dem vorhergehenden Jahrzehnt gezähmt und ging dazu über, alle anderen sozialen Bewegung zu zerstören. Der Russische Föderale Sicherheitsdienst nahm standardmässig verdächtigte Anarchistinnen und Antifaschistinnen fest und folterte sie mit Elektroschocks und anderen schrecklichen Methoden, damit sie falsche Aussagen unterschrieben und zugaben, an «terroristischen Netzwerken» beteiligt gewesen zu sein.

Wie Dmitry später der Nachrichtenseite Doxa sagte:

Ich zögerte es so lang wie möglich heraus, das Land zu verlassen, aber als ich aufbrach, erfuhr ich, dass sich die Sicherheitskräfte für meine bescheidene Person interessierten.

Er entschied sich für die Ukraine, weil er der Ansicht war, ihre Regierung schaffe es von allen postsowjetischen Staaten am wenigsten, ihre Autorität durchzusetzen. Im Interview mit Doxa beschreibt er seine Tätigkeit nach seiner Ankunft wie folgt:

In der Ukraine waren wir unter den anarchistischen Emigrant*innen aus Russland und Belarus tätig, einer Art Diaspora. Eine ganze Reihe verschiedener Sachen: vom Kinoclub bis zu Diskussionen und Strassenaktionen. Das Wichtigste war jedoch, Kontakte zu knüpfen und systematisch funktionierende Strukturen aufzubauen.

Wie wir schon anderweitig festgestellt haben, wir es immer wichtiger, Wege zu finden, um das Wirken von Geflüchteten zusammenzubringen. Denn Staatliche Repression, Umweltkatastrophen und Wirtschaftskrisen zwischen Millionen von Menschen ins Exil. Gleichzeitig wie er sich in der Ukraine niederliess, organisierte sich Dmitry weiterhin mit Anarchist*innen aus Russland. Der Telegram-Kanal Anarchist Combatant erschien im gleichen Jahr, 2018.

Laut der Anarcho-Kommunistischen Kampforganisation, nahm Dima [Dmitry] am ganzen Prozess des Aufbaus von BOAC [Anarcho-Communist Combat Organization, der Anarcho-Kommunistischen Kampforganisation] teil – an ihrer theoretischen Arbeit, ihrem praktischen Training und der Organisation von Trainings- und Kampfaktivitäten. Sein grösstes Verdienst – und das ist unserer Meinung nach keine Überraschung für diejenigen, die ihn kannten – war jedoch seine Fähigkeit, Bände mit andern Menschen zu knüpfen, mit Genoss*innen zu Hause und im Ausland… Er war immer offen gegenüber von anderen Menschen. Er sah immer das Beste in ihnen – mehr als einmal lag er falsch, aber er glaubte weiter daran und suchte danach.

2019 verkündigten die Verantwortlichen des Black Blog das Ende ihres Projekts, vier Jahre nach ihrem letzten Post. Sie betonten, dass sie weiterhin überzeugt seien davon, dass ihre Strategie, die sie 2009 entschieden, noch Gültigkeit habe:

Wir haben etwas gesät und wir sehen schon Triebe. Unsere Feindinnen – die Unterdrückerinnen und ihre Handlanger*innen in den «Sicherheitsdiensten» – konnten uns nicht aufhalten, egal, wie sehr sie sich bemühten.

Wir tun diese Dinge nicht, um unser Ego zu füttern. Alles, was wir tun, geschieht nicht aus persönlichem Ehrgeiz, aber um den Kampf für Freiheit und Gerechtigkeit voranzubringen. Wir sind überzeugt, dass wir Erfolg hatten. Zehn Jahre später, sagen wir, wie wir es schon vorher getan haben, dass wir glauben, dass unsere antiautoritären Ideen richtig sind und dass der radikale Weg, den wir eingeschlagen haben, eine gute Wahl war. Der Kampf geht weiter.

Am 10. Juni 2020, inmitten des Höhenpunkts der George-Floyd-Demonstrationen in den Vereinigten Staaten und als Antwort auf die Polizeigewalt in der Ukraine, legten Anarchistinnen ein Feuer am Sitz des Untersuchungsausschuss des Innenministeriums in Kyjiw und schrieben ein Kommuniqué, das auf der Homepage der «Anarchist Combatants» publiziert wurde. Es sollte auch Zweifel daran zum Schweigen bringen, ob Dmitry mit den ukrainischen Behörden Frieden gemacht hatte. Als im gleichen Sommer ein Aufstand in Belarus ausbrach, überquerte Dmitry illegal die Grenze, um teilzunehmen. Belarussische Anarchistinnen schrieben:

Während seines Aufenthalts in Minks nahm er an Dutzenden von Demonstrationen jeweils dabei, den anarchistischen Block zu organisieren, und schaffte es sogar, Bullen mit ihren eigenen Blendgrenaden zu bewerfen. Nachts, wenn viele Belarussinnen schliefen, waren Leschy [Dmitry] und andere Genossinnen auf der Strasse in Minsk und zerstörten die Überwachungskameras, die in der Repressionsinfrastruktur eine wichtige Rolle spielten… Im Herbst 2020 schrieb er mehrere Artikel für unsere Website. Wenn ihr in Minsk mit den Anarchist*innen demonstriert habt, dann ist es gut möglich, dass ihr euch an der Seite dieses aussergewöhnlichen Menschen befandet.

Der Aufstand in Belarus wurde schliesslich niedergeschlagen und zahlreiche der Anarchist*innen, die daran teilgenommen haben, sind immer noch im Gefängnis, was zeigt, wie gefährlich es ist, in postsowjetischen Länder an aufständischen Aktivitäten teilzunehmen. Im September 2020 wurde ein Blogeintrag der Anarcho-Kommunistischen Kampforganisation veröffentlicht, ein Kommuniqué zu einer klandestinen Guerrilla-Aktion in Belarus.

Angesichts all dessen, kann Dmitrys Werdegang vom Black Blog durch die Aufstände von 2012, 2014 und 2020 bis zur Anarcho-Kommunistischen Kampforganisation verstanden werden als die Entwicklung einer Strategie: das Zusammenbringen einer öffentlichen Tätigkeit mit klandestiner Organisierung, ein Modell, dass den sich schnell verändernden und gefährlichen Umständen der postsowjetischen Ländern entspricht; ein Modell, das für beide Aktivitäten von Vorteil sein kann, weil es von gelegentlichen offeneren Fenstern profitieren und gleichzeitig dabei kann, Zeiten von starker Repression zu überstehen. In Zeiten, in denen die Staatliche Gewalt und Überwachung zunehmen, werden vielleicht auch Aktivist*innen in anderen Teilen der Welt zum Schluss kommen, dass ihnen ein ähnliches Vorgehen zupass kommt.

Schon bevor Russland die Ukraine im Februar 2022 überfiel hat Dmitry zusammen mit ukrainischen und belarussischen Anarchististinnen daran gearbeitet, eine explizit anarchistische und antiautoritäre Militäreinheit zu schaffen. Sie sollte einerseits dazu dienen, dass die Mitglieder nicht Seite an Seite mit den Faschistinnen kämpfen müssen, die in der ukrainischen Armee dienen. Dmitry sah die Teilnahme an der Verteidigung der Ukraine zudem als eine Möglichkeit, um den anarchistischen Ideen in den Augen der breiten Öffentlichkeit mehr Glaubhaftigkeit zu verleihen und seinen seit längerer Zeit andauernden Kampf gegen Putins Regime weiterzuführen.

In der ersten Phase der russischen Invasion waren Dmitry und seine Genossinnen als unabhängige Einheit der Territorial-Verteidigungskräfte in der Region rund um Kyjiw aktiv. Später wurde ihre «antiautoritäre Kolonne» in die militärische Bürokratie verstrickt, die nicht-ukrainischen Mitglieder befanden sich in der Schwebe und die gesamte Einheit wurde davon ausgeschlossen, an den Kämpfen teilzunehmen. Im Juli 2022 schrieb Dmitry eine Analyse der ersten vier Monate der «antiautoritären Kolonne», in der er ihre interne Struktur thematisierte und ihre Erfolge und Fehler beurteilte. Ein wichtiges historisches Dokument für alle, die sich dafür interessieren, inwiefern das militärische Modell, das in Rojava entwickelt wurde, unter anderen Umständen reproduziert werden kann. Es ist lehrreich für alle, die sich für die Teilnahme von Anarchistinnen an militärischen Operationen interessieren, egal, ob sie diese verbessern oder kritisieren wollen.

Dmitry und andere Mitglieder der Kolonne wollten an die Front kommen. Die Kolonne löste sich schliesslich auf und sie schafften es, in einer anderen Formation die Front zu erreichen. Als wir das letzte Mal von ihm hörten, war er dabei, diese Einheit zu verlassen und hoffte, ein weiteres Mal eine explizit antiautoritäre Einheit zu schaffen.

Wir überlassen es anderen, darüber zu diskutieren, ob Dmitrys beharrliche Versuche, eine militärische Einheit zu begründen, eine ehrenhafte Weiterführung seines lebenslangen anarchistischen Projekts, ein Fehler begründet in einer schon vorher bestehenden Schwachstelle oder ein mutiger Versuch, mit einer beinahe unmöglichen Situation umzugehen, war. Diejenigen, die seine Überlegungen lesen möchten, können unter einer Vielzahl an Interviews auswählen. Nicht zu vergessen ist auch, dass er während seines Kampfes in der Ukraine weiterhin über die Anarcho-Kommunistische Kampforgnisation die Sabotage und andere subversive Tätigkeiten unterstützte, und dass er immer betonte, wie wichtig Unabhängigkeit, Horizontalität und direkte Aktion im anarchistischen Kampf sind.

Wie ehrlich er seinen Kampf meinte, steht auf jeden Fall ausser Frage.

Meine lieben Freundinnen, Genossininnen und Verwandte,

ich entschuldige mich bei all denen, die ich durch meinen Aufbruch verletze. Ich schätze euer Wohlwollen sehr. Ich glaube aber auch fest daran, dass der Kampf für Gerechtigkeit, gegen Unterdrückung und Ungerechtigkeit eines der Ziele ist, die dem menschlichen Leben den grössten Sinn verleihen können. Dieser Kampf erfordert Opfer, und auch die Opferung seiner selbst.
Das beste Andenken, das ich mir vorstellen kann, ist, dass ihr meinen Kampf aktiv weiterführt und persönlichen Ehrgeiz und unnötige persönliche Zwiste beiseitelegt. Dass ihr weiter für eine freie Gesellschaft kämpft, die auf Gleichheit und Solidarität beruht. Für dich, für mich und für alle unsere Genossinnen. Gefahren, Verluste und Opfer sind unsere ständigen Begleiterinnen auf diesem Weg. Aber seid versichert, sie sind nicht vergeblich. – Die letzte Nachricht von Dmitry Petrow

In einem Interview, das im Dezember 2017 veröffentlicht wurde, sagte Dmitry: «Allgemein ist beinahe alles, das von menschlicher Hand geschaffen wurde, das Werk unzähliger Menschen.» In diesem Sinne sehen wir Dmitry nicht als ein Vorbild. Sein Leben zeigt uns vielmehr das Leben zahlreicher russischer Anarchist*innen, ihren Mut und die Herausforderungen, mit denen sie konfrontiert sind.
Dmitrys Leben war vor allem ein Zeugnis davon, wie viel unter mensch unter den schwierigsten Umständen tun kann. Auch unter einer brutalen Diktatur und konfrontiert wachsenden widrigen Verhältnissen hat er immer wieder Wege gefunden, sich zu organisieren und für die Zukunft, die er sich erwünschte, zu kämpfen.

Dieser Text ist nicht dazu bestimmt, den Tod im Kampf zu glorifizieren. Je weiter das 21. Jahrhundert fortschreitet, desto weniger ist ein Leben wert – davon zeugt, wie die Wagner-Gruppe bewusst Gefangene als Kanonenfutter verwendet hat. Anarchist*innen sollten nicht vorschnell ihr Leben riskieren – schon bald wird es zahlreiche Gründe geben, unser Leben zu riskieren, oder wir können es aus einem nichtigen Grund verschwenden. Anstatt danach zu trachten, unser Engagement durch unseren Tod zu beweisen, sollten wir in jedem Moment unseres Lebens versuchen, unseren Wunsch nach Freiheit zum Ausdruck zu bringen.
Dennoch, müssen wir uns zu einem Zeitpunkt, indem der Krieg von Syrien bis in die Ukraine um sich greift, den gleichen Fragen stellen, die auch Dmitry beschäftigten, als Russland das Land angriff, in das er geflohen war. Wenn wir auf diese Situation vorbereitet sind – und besonders, wenn wir andere Antworten auf diese Fragen haben wollen –, dann müssen wir uns damit beschäftigen, was in Russland passiert ist. Vielleicht haben wir noch genügend Zeit, damit die Dinge anders kommen in anderen Teilen der Welt, wenn wir mutig genug sind – aber es ist an der Zeit, zusammenzustehen.

Wenn eine Anarchistin stirbt, ist es an uns Überlebenden, ihre/seine Erfahrungen mit den zukünftigen Generationen zu teilen. Wir können nie mit Sicherheit wissen, welche Ansichten diejenigen, die nach uns kommen, am meisten brauchen können. Um unseren Teil beizutragen, haben wir folgenden Artikel übersetzt, den Dmitry am 17. Juni 2020 über den Telegram-Kanal «Anarchist Combatant» veröffentlicht hat und in dem er schreibt, was er als «Die Aufgabe des Anarchismus in der modernen Welt» saht.

Die Mission des Anarchismus in der modernen Welt

Es ist keine neue Idee, dass die grossen Projekte zur Veränderung der Welt heute einen schlechten Stand haben. Im 20. Jahrhundert haben mächtige Bewegungen Millionen von Menschen mobilisiert, um den Himmel zu stürmen, politisch gesprochen, und «grosse Bauten» auszuführen [im Sinne der Projekte der Sowjet-Ära, in denen die Gesellschaft neu erfunden werden sollte]. Eines nach dem anderen sind diese Projekte ethisch verkommen, praktisch eingegangen oder haben ihre Relevanz verloren. Hier kommen einem zuerst einmal der Faschismus und der leninistische Kommunismus in den Sinn. Sogar der scheinbar triumphierende liberale Gesellschaftsentwurf ging tatsächlich einfach im globalen kapitalistischen System und geopolitischen Spiel auf, in dem die Mechanismen nicht mehr viel mit Liberalismus zu tun haben.

Von den ehrgeizigen Ideokratinnen, welche die Welt nach ihren Überzeugungen umzubauen wagen, ist heute vielleicht nur doch die Stimme der Jihadistinnen laut und deutlich zu vernehmen. Doch ist der islamistische Fundamentalismus nicht gerade eine Art Projekt, hinter dem eine Person mit anarchistischer Weltanschauung stehen kann.

Die unter einem schlechten Stern stehenden globalen Pläne führten gegen Ende des 20. Jahrhunderts zum Aufkommen einer tiefen Depression und Lähmung, was Ideen zur Veränderung der Welt anbelangt. Doch die ersten Jahrzehnte des neuen Jahrhunderts haben klar gezeigt, dass das «Ende der Geschichte» abgesagt worden ist. Unbeständigkeit, Widerständigkeit und Unregierbarkeit sind gewachsen. Die Anzahl der regierungskritischen Demonstrationen unter einer Vielzahl von Slogans und Fahnen hat im Vergleich zur vorhergehenden Ära um ein Vielfaches zugenommen.

Gleichzeitig besteht ein grosses Bedürfnis nach grundlegenden Veränderungen an so vielen Orten wie möglich. Wir brauchen immer noch eine neue Welt, wie schon zuvor. Beinahe alles an unserer Gesellschaft ist inakzeptabel und kann nicht als Modell für die Gegenwart oder die Zukunft dienen.
Aber wie wird die veränderte Realität aussehen? Es gibt unschöne Prophezeiungen von einer «Schönen neuen Welt», die vollkommen von post-modernen Eliten regiert wird, oder im Gegenzug von einem neuen Feudalismus und einer grossen Krise, die zum Aufkommen von brutaler Gewalt führen wird. Diese Bilder werden vervollständigt durch die Aussicht auf eine globale ökologische Katastrophe. Gleichzeitig mit diesen verschiedenen finsteren Aussichten wird ein weiterer Trend immer mehr ersichtlich: der Wunsch nach direkter Demokratie, nach einer Gemeinschaft unter Gleichen, nach der Beseitigung von Ungleichheit und Unterdrückung, nach einem harmonischen Zusammenleben mit der Natur. Dieser Trend ist immer noch auf viele verschiedene soziale Strömungen verteilt, die zuerst einmal zu einem grossen Strom zusammenfliessen müssen. Dennoch erweckt er die Relevanz des Anarchismus wieder zu neuem Leben.

Jetzt, da sich anderen Missionarinnen sich als Schwindlerinnen oder Wahnsinnige herausgestellt haben, ist es an der Zeit für die Anarchist*innen, sich wieder an ihre Mission zu erinnern und ihr weltweites Projekt wieder geltend zu machen. Wie können seine gemeinsamen Züge aussehen?

Die Megamaschine zerstören

Die moderne Massengesellschaft ballt sich in gigantischen städtischen Agglomerationen. Der Löwenanteil des menschlichen Lebens ist durch staatliche Gesetze und kapitalistische Verhältnisse im Bereich der Produktion, des Austauschs und des Konsums geregelt und kontrolliert. Als Resultat davon findet sich der modern Mensch in der Rolle eines Objekts wieder, das von gigantischen maschinenähnlichen Kräften manipuliert wird. Gleichzeitig befinden wir uns in fortwährender Unruhe. Die moderne Welt zeichnet sich aus durch den Schlaf des Verstands und die Unterdrückung von starken Gefühlen, die durch momentane und von aussen kontrollierte Begierden ersetzt werden. Dieser Zustand ist der menschlichen Natur zuwider; er führt zu Unzufriedenheit und schliesslich der Sehnsucht nach etwas anderem.

Das monströse Ausmass des Staats löst in uns aber Angst und Zweifel aus: Können wir uns je aus seinem eisernen Griff lösen? Das endlose Kaufen und Verkaufen, das unsere Tage ausfüllt, geht mit einer Million unterschiedlicher Faktoren einher, die unsere Abhängigkeit noch verstärken und uns von innen heraus korrumpieren und verbiegen.

Doch der Lauf des Lebens selbst lässt die Menschen irgendwann rebellieren – und zahlreiche historische Beweise belegeben, dass auch die übermächtig erscheinenden sozialen Systeme wie ein Kartenhaus einstürzen können, manchmal komplett unerwartet. Hier können wir in unserem Kampf gegen die bestehende Ordnung ansetzen. Die Megamaschine zu zerstören und auseinanderzunehmen ist ein ehrgeiziges Ziel für die anarchistische Bewegung.

Neue Gemeinschaft

Heute stellen wir eine zunehmende Vereinzelung der Menschen und eine Auflösung der gemeinschaftlichen Bande fest. Nachbarinnen wissen immer weniger über einander und gehen sich manchmal sogar ganz aus dem Weg. Laute Familienfeste werden seltener und wirken erzwungen. Die Gründe dafür sind komplex und es ist nicht einfach, die wichtigsten zu identifizieren. Immer mehre Angebote zur individuellen Unterhaltung, der allgemeine Trend zu individuellem Komfort, der immer von «exzessiver» Intimität bedroht wird, und der berüchtigte Egoismus, organisch mit der kapitalistischen Marktwirtschaft verwachsen, der jede Beziehung in eine zeitlich begrenzte Interaktion zwischen zwei Konsumentinnen und zum gegenseitigen Vorteil verwandelt. Das Wort «Partnerin» wird immer geläufiger; in Russland steht es für Entfremdung, es steht im Gegensatz zu Wörtern wie Liebling, Freundin, Genoss*in…

Für uns ist die Krise der Gemeinschaft, der geteilten Existenz von Menschen, eine der katastrophalsten Auswirkungen des Kapitalismus und der staatlichen Macht. Zusammen mit moralischen und ethischen Überlegungen hat die anarchistische Revolution auch konkrete institutionelle Instrumente zur Verfügung, um etwas zu schaffen, das «neues Gemeinschaftsgefühl» genannt werden kann. Zu diesen Instrumenten zählen Vollversammlungen, Zusammenkünfte, Gremien zur kollektiven Selbstverwaltung, und wirtschaftliche Einheiten. Wenn der Parasit dieses Systems, das tief in das soziale Gefüge eingedrungen ist und uns voneinander entfremdet hat, aus dem Körper der Gesellschaft herausgerissen worden ist, werden wir die Notwendigkeit haben, wieder warme und horizontale Bände zu knüpfen und solidarische Verbindungen zueinander aufzubauen.

Gemeinsam ein soziales Leben aufzubauen wird in starkem Kontrast zu den jetzigen gesellschaftlichen Gewohnheiten. Schaut euch nur an, wie die russischen Behörden gerade versuchen, die Briefwahl durchzusetzen – sogar die Illusion einer Wahl wird nicht mehr Mengen von sich fremden Menschen vor der Wahlurne zusammenbringen.

Ja, wir haben vor, zusammen Entscheidungen zu treffen, in überfüllten und lauten Küchen zu kochen, anstatt es in sterilen Beuteln ausgehändigt zu bekommen, unsere Kinder anderen Kindern auf der Strasse vorzustellen, anstatt dass sie alle alleine Trickfilme anschauen… Der Verfall der Menschlichkeit, der vor unseren Augen stattfindet, kann gestoppt werden. Er muss gestoppt werden.

Die Wirtschaft

Menschen für privaten Profit zu verwalten, alles auf der Welt – lebende wie auch unbelebte Wesen – als rohes Material zu sehen, aus dem Profit geschlagen werden, der krankhafte Luxus einer winzig kleinen Minderheit auf Kosten der grossen Mehrheit: Dies sind nur einige der aussagekräftigsten Züge, die das moderne Wirtschaftsmodell charakterisieren. Ihre Essenz steht dem, was wir als richtig und gerecht ansehen, diametral entgegen.

Alle Gründe, weshalb wir Kapitalismus ablehnen müssen, können auf diese zwei Aussagen heruntergebrochen werden:

1) Dieses Wirtschaftssystem ist unethisch, ungerecht und entwürdigend;
2) Es scheitert daran, ein würdiges Leben für alle zu schaffen.

Geld- und Warenbeziehungen, Lohnarbeit, Investitionen, Bankdarlehen und Zinsen sind so tief in unserem Alltag verankert, dass es manchmal so aussieht, als wäre es unmöglich, sie abzuschaffen – als würde es ohne sie sofort zu Hungernöten und Zerfall kommen.

Dabei haben wir etwas, das wir ihnen entgegensetzen können: die menschliche Arbeitskraft (Tausende von Menschen verschwenden ihre Arbeitskraft heute für unnütze Aufgaben, in sogenannten «Bullshit Jobs»). Die Erfahrungen der Arbeitenden werden es ihnen erlauben, eine Wirtschaft ohne Chefinnen aufrecht zu erhalten. Technologie wird es der Gesellschaft ermöglichen, das Produktions- und Verteilungssystem ihren Bedürnissen und Werten entsprechend zu organisieren… Das sollte schon genügen, um die Wirtschaft aus den Händen einer Elite dazu überzuführen, von der gesamten Gesellschaft kontrolliert zu werden, um sicherzustellen, dass die Produktion durch die Arbeitenden fair verwaltet wird und das Prinzip «jeder nach den eigenen Fähigkeiten, jeder*m nach den eigenen Bedürfnissen» umgesetzt werden kann.

Die Mission der anarchistischen Bewegung ist es, durch Worte, Taten und Vorbilder, in der Gesellschaft das Verständnis von wirtschaftlicher Gerechtigkeit zu verankern, und nach dem Umsturz des Staates und der Kapitalist*innen den «Raum dafür zu schaffen» – die gesellschaftlichen und politischen Bedingungen für ihre Verwirklichung.

Die Beseitigung von Diskriminierung

Die moderne Gesellschaft ist voll von Diskriminierungen aus den unterschiedlichsten Gründen. Menschen werden aufgrund einer breiten Palette von Eigenschaften und Attributen diskriminiert. Zum Teil wegen Vorurteilen, die jahrhundertealt oder neu sein können, aber auch aus kollektiver Verantwortung und aufgrund der Art und Weise, wie Menschen in einer Welt, die von kapitalistischen Beziehungen regiert wird, einander entfremdet sind.

Vorurteile und kollektive Verantwortung werden von skrupellosen Politiker*innen geschickt manipuliert.

Die genderbasierte Unterdrückung ist eine der ältesten und schlimmsten Formen der Diskriminierung. Auch wenn sich die Lage in Osteuropa und in der «westlichen Welt» stark verändert hat seit der offen patriarchalen Vergangenheit, bleiben Frauen unterdrückt. Das wird belegt von Daten zu häuslicher, sexualisierter und genderbasierter Gewalt und den Einkommensunterschieden. Handlungsweisen und Schemas, die Frauen herabsetzen, sind immer noch wirkmächtig. Zum Beispiel die Haltung: «Frauen haben in der Politik nichts zu suchen.» In unserer gesellschaftlichen Realität gibt es viele solcher unsichtbaren kulturellen Hürden, die Frauen davon abhalten, ihr volles Potential verwirklichen zu können.

Und etwas anderes geht oft vergessen, auch wenn es zu den wichtigsten Problemen gehört. Die Beziehungen zwischen allen Menschen werden von Genderstereotypen und der Konsummentalität sowie dem darin verankerten Egoismus vergiftet. Deshalb verursachen auch die am intimsten scheinenden Verbindungen den Menschen Schmerz und Unglück. Die kapitalistische und autoritäre Weltanschauung verhindert, dass wahre Intimität entstehen kann.

Die Mission des Anarchismus ist es, über jede Gruppenidentität hinweg echte Schwesterlichkeit/Brüderlichkeit zwischen den Menschen zu schaffen. Eine Grosszahl an Instrumenten steht uns dazu zur Verfügung:

1) die Praxis, die Gesellschaft kollektiv aufzubauen und zu verwalten, was eine gleichgestellte Zusammenarbeit und gegenseitige Wärme zwischen allen Personen, die an diesem Prozess teilhaben, voraussetzt;
2) eine revolutionäre politische Kultur, die voraussetzt, dass Vertreter*innen aller unterdrückten Gruppen aktiv und bewusst an den sozialen Anstrengungen teilnehmen;
3) ein Bildungsprogramm, das den Menschen hilft, Vorurteile hinter sich zu lassen.

Das Ziel des anarchistischen Projekts ist es, Diskriminierung abzuschaffen, zwischenmenschliche Beziehungen zu verbessern, und – so naiv das auch tönen mag – die Liebe der nächsten Person in unser Leben zurück zu bringen. Kapitalismus und Autoritarismus stehen dem im Weg, aber sie sind keine unüberwindbaren Hürden.

Nationale Konflikte lösen

Seit uralten Zeiten wurde die menschliche Gesellschaft von gewaltvollen Auseinandersetzungen, die auf ethnischen oder nationalen kulturellen Unterschieden beruhten, heimgesucht und in Angst versetzt. Weitere Kriterien wurden erfunden und hinzugefügt, wie beispielsweise religiöse Unterschiede oder die Rassentheorie. In der Ära der Nationalstaaten, die heute die hauptsächliche Form der politischen Organisation darstellen, haben zwischenstaatliche und interethnische Konflikte zusätzlich an Intensivität gewonnen. Mit dem Aufkommen des Nationalstaats ist auch die Frage aufgetaucht, welche Nation das legitime Recht hat, einen bestimmten Staat zu regieren. Welches Land «gehört rechtmässig» welcher nationalen Gruppe? Das Resultat war das unermessliche Leiden von Millionen von unschuldigen Menschen: erzwungene Assimilation, Zwangsdeportationen und schliessliche brutale Massenmorde. Und trotzdem brechen immer noch auf der ganzen Welt nationale Konflikte aus.

Kein anderer eingebildeter Gegensatz in der Geschichte der Menschheit hat so schreckliche Auswirkungen gehabt wie der ethnische Konflikt. Er beruht oft auf den Interessen von nationalen politischen und wirtschaftlichen Eliten und von Staatsbürokratien, sowie auf den ignorantesten und verzerrtesten Vorurteilen den Nachbarinnen gegenüber – den Anderen, den Vertreterinnen von anderen ethnischen Gruppen.

Der Idee des nationalen Konflikts liegt die Idee zugrunde: «Sie oder wir?» Anarchismus bietet eine Alternative: «Sowohl sie als auch wir, zusammen und als Gleichgestellte.» Indem wir den Nationalstaat ablehnen, der nichts mehr al sein Instrument der Unterdrückung und der Ungerechtigkeit ist, machen die Anarchist*innen den Weg frei für die Konföderation: die gleichgestellte Zusammenarbeit der Völker aller Länder. Das gleiche Land kann sowohl serbisch als auch albanisch, armenisch und aserbaidschanisch sein… die Liste ist endlos. Gleichheit und Selbstverwaltung, die gesellschaftlichen Säulen des Anarchismus, sind unverzichtbare Bedingungen für einen fruchtbaren Dialog zwischen den Kulturen, der allen Seiten hilft. Die Notwendigkeit eines solchen Dialogs hat nicht abgenommen – im Gegenteil, sie ist im 21. Jahrhundert noch grösser geworden.

Zur Harmonie mit der Natur zurückfinden

Lange war es ein Gemeinplatz, dass Kapitalismus und die ständig wachsende Wirtschaft und der zunehmende Konsum im Allgemeinen extrem zerstörerische Auswirkungen auf die Natur haben. Das heisst, das Verständnis, dass dieser Entwicklungsmotor droht die Menschheit und den Planeten, den wir unser Zuhause nennen, zu zerstören.

Ich möchte einen vertiefteren Blick auf dieses Problem werden. Die anthropozentrische Weltanschauung, die heute vorherrscht, und die von ihr hervorgebrachte Lebensweise ist eine Auswirkung des hierarchischen Verständnisses gegenüber der Welt und allen Lebewesen. Die Natur ist die «Werkstatt des Menschen…» Diese Ansicht ist nicht natürlich, ethisch oder akzeptabel. Die wahre Emanzipation der Menschheit kann nicht stattfinden bevor wir die Entfremdung von der Natur überwinden und zur Harmonie mit ihr zurückfinden.

Was für ökologische Massnahmen kann der Anarchismus bieten? Die moderne Technologie sollte umorientiert werden und nicht mehr dazu dienen, den Profit zu vergrössern, sondern die Natur zu bewahren und wiederherzustellen sowie allen Menschen ein würdiges Leben zu ermöglichen. Idealerweise sollten wir der extensiven Ausweitung des zerstörerischen menschlichen Einflusses der Menschen auf die Natur ein Ende setzten. Das Wissen und die Fähigkeiten, welche die Menschheit gewonnen hat, sollten es möglich machen, diese Aufgabe wahrzunehmen oder zumindest einen Schritt in diese Richtung zu machen.

Es ist äusserst wichtig, den Lebensraum neu zu organisieren, und die monströsen Megastädte als menschlichen Wohnraum abzuschaffen. Die Unterkunft muss stattdessen proportional zur Person sein, so subjektiv das auch tönen mag. Die leblose, vom Menschen gestaltete Landschaft, die den Menschen von den natürlichen Prozessen abschneidet muss dem harmonischen Einfügen der Wohnräume in die natürliche Landschaft, der Verflechtung von Natur und Menschheit, weichen.

Hier und Jetzt

Der unerträgliche Zustand unserer jetzigen Situation… und die Umrisse einer erneuerten Welt bewegen unseren Geist und unsere Herze, wie prophetische Träume. Diese Ansatzpunkte für die Mobilisierung halten uns davon ab, aufzugeben und einfach zu akzeptieren. Deshalb sind wir bereit, uns einzubringen, Risiken einzugehen und Opfer zu bringen, um eine neue Gesellschaft zu schaffen. Ein organisierter revolutionärer Kamp fist der Weg, um die Ziele zu erreichen, die in diesem Text umrissen sind. Der Sieg ist möglich – deshalb müssen wir gewinnen.

Phil Kusnetsow [Dmitry Petrow]

Anarchistischer Kämpfer