Persönliche Eindrücke zu Polizeigewalt an antifaschistischen Demonstrationen
Auf der anderen Seite des Gewehrs ist es warm und laut. Laut, weil wir seit zwei Stunden gegen unsere Angst anschreien. Warm, weil wir das wenigstens gemeinsam tun. Noch ist das Gewehr, auf dessen gefährlichen Seite ich stehe, nicht sichtbar. Sie lauern hinter der nächsten Strassenecke, bereit zum Einsatz. Das Gewehr zu brauchen sollte, eigentlich, as Worst Case Szenario der Polizei sein. Verhältnismässigkeit, mildeste mögliche Mittel, verantwortungsvoller Umgang mit dem staatlichen Gewaltmonopol und so weiter. Doch dieses Vertrauen, sollte es überhaupt je dagewesen sein, wirkt blauäugig im Wissen, wie viele Augen in den letzten Jahren ausgeschossen wurden. Blauäugig im Wissen, wie gerne und schnell manche von ihnen ihre Waffen ziehen und das im Zweifelsfall, was auch immer das heissen mag, geschossen wird. In Gedanken bei Nzoy leisten wir uns diese Blauäugigkeit schon lange nicht mehr.
Je mehr ich an sie denke, an Nzoy, an Mike Ben Peter, an Nahel, an , desto mehr gefällt mir die Vorstellung, dass auch die Polizei abwechslungsweise mal etwas Angst haben könnte. Zu wissen, dass Nzoys Mörder sein Leben einfach so nehmen konnten, ohne mit ernsthaften Konsequenzen rechnen zu müssen. Dass sie Mike Ben Peters Leben nehmen konnten und sich danach noch über ihren Mord lustig machen konnten, ohne mit Konsequenzen rechnen zu müssen. Zu wissen, dass weitere Opfer folgen werden weil schlussendlich sie es sind, die nicht nur mit Waffen sondern mit der vollen Kraft des Staatsapparates ausgerüstet sind – in diesem Wissen gefällt mir die Vorstellung, dass es ihnen vielleicht kalt den Rücken runter läuft, wenn sie die Schatten unserer Fahnen auf den rot beleuchteten Hausfassaden wehen sehen, wenn sie uns noch drei Strassen weiter schreien hören: toute le monde déteste la police. Es wäre weder Vergeltung noch Wiedergutmachung, aber vielleicht eine kleine Genugtuung, wenn es sie schaudert bei unserem Anblick. Genugtuung, aus der Hoffnung entspringen könnte, dass die Allmacht dieser Vollvermummten mit Gewaltmonopol vielleicht doch nicht ganz so niederschmetternd ist. Dass aus einer Masse von Davids vielleicht doch eine Kraft wird, die dem Goliath etwas anhaben kann. Ja, die Vorstellung, dass ihnen heute Abend für zwei Stunden etwas mulmig im Bauch wird, ist gar nicht so schlecht.
Doch dann sehe ich das Gewehr und das Bewusstsein, auf welcher Seite dessen Laufs ich stehe übergiesst mich eiskalt. Sie lauern jetzt nicht mehr nur an Kreuzungen auf uns. Ein Rudel von ihnen laufen neben uns her, ein Spalier aus Uniformen, Gasmasken, Schlagstöcken, Pfeffersprays, Gewehren. Nur Gesichter sehe ich keine. Die Gewehre sind keine „echten“ Gewehre, geschossen wird mit hartem Gummi statt mit scharfer Munition. Was bringt mir das jetzt genau? Ich weiss auch, dass dieser Gummi tödlich ist, trifft er an der falschen Stelle. So sie diesen Aktivisten in Marseille von ein paar Monaten tödlich getroffen haben. Auch bei „echten“ Gewehren stirbt man nur, wenn man an der falschen – oder an der richtigen – Stelle getroffen wird. Ich spüre im Augenblick der akuten Bedrohung keinen Unterschied, Gewehr ist Gewehr.
Vor meinem inneren Auge sehe ich die Berichte: weggeschossene Augen, geplatzte Hoden. Berichte über schlecht bis gar nicht getestete Gummigewehre, Berichte über nicht eingehaltene Sicherheitsabstände beim sicheren Auf-Menschen-schiessen, Berichte über Streuungen von Schrot die grösser und ungenauer sind als gesetzlich zugelassen. Ich sehe mich selbst vor dem Spiegel, wie ich versuche, ohne Hilfe mein T-Shirt auszuziehen, nachdem mich ein Gummigeschoss an der Schulter so heftig getroffen hat, dass ich auch Tage später nicht weiss, wie ich mich in der Nacht schmerzfrei hinlegen kann. Das Geschoss traf mich damals keine 30 cm vom Kopf entfernt, es traf mich aus einer so grossen Entfernung, dass ich den Absender nicht einmal sehen konnte.
Es traf mich vor sehr langer Zeit, doch der Schmerz bleibt präsent. Es reicht die Erinnerung, um in diesem Moment neben dem Polizeispalier um meine Augen, meine Stimmbänder, meine Zähne, mein Gehirn zu fürchten. Ich habe eine Schutzbrille, doch der Plastik ist milchig und dazu von meinem Atem beschlagen, deshalb zieh ich sie runter, wenn Sehen von der Essenz ist. Sowieso – ich kann mir nicht vorstellen, wie mich die Schutzbrille schützen soll. In meiner Vorstellung ist sie im Falle eines Schusses in den Kopf ein weiterer Fremdkörper, der sich tief in mein Gesicht gräbt. Ich sehe diese Unfallpräventionskampagne vor mir, schwere Unfälle können alle treffen, war das nicht die Tage auch in den Medien? Ich kämpfe gegen die Panik an und doch weiss ich: wenn die jetzt auf mich schiessen, dann ist das nächste, wofür ich mein verbliebenes Augenlicht brauchen werde, das Ausfüllen von IV Formularen. Aber gut, dieses Horrorszenario hilft jetzt nicht. Ruhig halten, weiterlaufen. Schreien. Ich bin nichts. Ich kann nichts. Gebt mir eine Uniform.
Auch ohne die Andeutung ihrer Gesichter zu sehen ist es offensichtlich, dass die Uniformen in höchster Alarmbereitschaft sind. Sie bewegen sich hektisch, stolpern ab und zu gegenseitig in sich hinein. Ich sehe sie über die Plastikplane hinweg, auf der steht: Wer gegen Nazis kämpft, kann ich auf den Staat nicht verlassen.
Die Uniform laufen neben uns her, zwischen uns und ihnen sind keine drei Meter. Alle von ihnen besser bewaffnet & gepanzert als ein durchschnittlicher Soldat im Krieg vor 100 Jahren. Der Querschnitt der Strasse: die Häuserzeielen, sie, dann die zwei Meter Graben, der unsere Welten teilt, dann wir, und auf der anderen Seite wahrscheinlich symmetrisch der Graben, sie, die Häuserzeile. Plötzlich knallt es – aber nicht bei uns, sondern viele Meter weiter hinten. Ich kann nicht einmal zuordnen, ob es noch innerhalb der Demo knallt und geböllert wird ohnehin schon die ganze Zeit, mein Schreck hält sich also in Grenzen.
Anders geht es der Uniform, die neben mir läuft. Hektisch dreht sie sich um, hebt das Gewehr – und zielt. Auf mich. Auf uns. Zwei Meter trennen uns, ich hätte die Augenfarbe erkennen können, wäre da kein Visier. Meine milchige Schutzbrille hängt mir um den Hals, diese Eskalation kam unerwartet. Intuitiv ziehe ich die Plastikplane auf Kopfhöhe, sehe nichts mehr ausser meinen linken Arm, der sich knapp nicht weit genug strecken kann, um den Genossen vor mir zu warnen.
Als ich es wage, wieder über die Plane zu schauen, ist das Gewehr wieder zu Boden gerichtet, die Uniform wieder eine von vielen. Hat der im Ernst auf uns gezielt? Im Ernst? Die laufen doch jetzt sicher schon seit mehr als 15 Minuten neben uns her, die wissen doch, wie nahe wir sind. Dass ein Gummigeschoss auf diese Distanz Leben zerstören kann. Plötzlich kann ich mir wenig Bedrohlicheres vorstellen als einen Cop, der Angst hat. Verängstigte Menschen machen Fehler und ein Fehler an ihrem Ende des Gewehrs kann auf unserer Seite Augen kosten.
Ganz ehrlich, wenn man mir ein Gewehr in die Hand drücken und mich in eine geladene, unübersichtliche und bedrohliche Situation schicken würde, dann würde ich es vielleicht auch ansetzen und zielen, wenn mich etwas erschreckt. Aber ich bin auch nur ein normaler Mensch und kein durchgepanzeter Robocop mit Ausbildung und Erfahrung. Früher dachte ich, dass wir an die Träger*innen des Gewaltmonopols wohl höhere Massstäbe setzen dürfen. Dann denke ich: wenn es so schnell passiert, dass mit Gewehren auf zwei Meter Abstand gezielt wird, wenn die Uniformen über dermassen tiefe Impulskontrolle verfügen, dann sollten sie vielleicht einfach keine Gewehre mit sich tragen. Heute denke ich: die haben Waffen zum töten und verletzen und genau dazu werden sie sie auch brauchen. Ob die Uniform wohl einen Gedanken daran verschwendet, was hätte passieren können, wenn sie später Visier und Gasmaske ablegt?
„Sie sagen uns klar und deutlich: wenn ihr gegen Nazis kämpft, könnt ihr euch auf den Staat nicht verlassen.“
Plötzlich kommt mir die Vorstellung lächerlich vor, dass die Uniformen vor uns Angst haben könnten. Ich stehe hier in Turnschuhen und Regenjacke, zu meiner Verteidigung eine Plastikplane und eine Schutzbrille. Sie stehen dort, ihre Schienbeine sind besser gepanzert als mein ganzer Kopf. Schlagstock, Pfefferspray, Gewehr. Wenn sie uns mit Schutzbrillen erwischen können sie uns je nach Ort schon bestrafen, die Schutzbrillen seien quasi schon passive Angriffe. Wenn eine fünf Franken Plastikschutzbrille aus dem Migros Do It eine passive Angriffserklärung sein soll, was sind denn gepanzerte Schienbeine und Kniescheiben, Schilder, schusssichere Westen, Helme, Visiere? Wenn sie sich aus Versehen gegenseitig einpfeffern können sie nacher immernoch behaupten, wir seien das gewesen. Wenn einer von ihnen stolpert gibts wieder einen Verletzungseintrag mehr in der „Gewalt gegen die Polizei“ Statistik. Wenn bei uns jemand stolpert besteht das Risiko, dass sie auf diesen „Tumult“ reflexartig reagieren – und ihre Gewehre auf uns richten. Schlussendlich ist es egal, ob sie aus Angst, aus Reflex oder aus Rache schiessen, treffen wird es immer uns.
Dabei ist es ja kein einzelner Ausreisser, eine Uniform, die halt durchgedreht ist, als sie von zwei Metern aus auf uns zielte. Es ist vielmehr Teil der Uniform, gegen aussen mit ihrem Gewehr genau zwei Botschaften zu verbreiten:
Erstens: Keine Angst, ihr Immobilienbesitzer*innen, SUV Fahrer*innen, Faschos, Banken und Konzerne, wir schützen euch und euer Eigentum. Wenn es sein muss; Auge um Auge.
Zweitens: habt Angst, wenn ihr links seid und auf die Strasse geht. Wer für etwas einsteht, dass über die kapitalistische Marktlogik hinausgeht und es wagt, laut und ungemütlich zu sein, wird die Staatsgewalt zu spüren bekommen. Am besten sollt ihr so grosse Angst haben, dass ihr das nächste Mal direkt zu Hause bleibt. Die Einschüchterung von heute ist der Verzicht auf die Demonstrationsrechte von morgen. Sie sagen uns klar und deutlich: wenn ihr gegen Nazis kämpft, könnt ihr euch auf den Staat nicht verlassen.
Wird die Einschüchterung funktionieren? Ich glaube nicht. Ich werde weiterhin gegen die Angst anschreien, sei es mit meinen Genossinnen auf der Strasse oder in diesem Text. Für mich ist wichtig zu meiner Angst stehen zu können. Aber die Angst wird mich nicht regieren. Wir dürfen Gewalt und Gummi nicht unterschätzen. Aber wir alle dürfen auch wissen, dass wir nicht alleine sind. Wir schauen aufeinander, sind stark und widerständig miteinander. Und das ist sehr viel Wert. Solange noch ein Feuer in mir brennt, werde ich wieder rausgehen und mir die Strasse nehmen, in Turnschuhen und Regenjacke und zusammen mit meinen Genossinnen. Wir lassen uns nicht einschüchtern. Schulter an Schulter, gegen den Faschismus.