Gewalt ist schlecht und unter allen Umständen abzulehnen, das lernen wir schon im Kindergarten. Die Position der absoluten Gewaltfreiheit ist eine einfache Position, solange man sie sich leisten kann – solange man selber der Bully ist oder dem Mobbing nur zusieht, statt selber gemobbt zu werden.
Der Begriff der Gewalt ist praktisch und lässt sich nach belieben umdeuten und expandieren. Während der französischen Revolution sind unter dem Begriff Gewalt noch buchstäblich Köpfe gerollt und auch zu den aktiven Zeiten der RAF – der Auslöser dieser Diskussion – ging es im Thema Gewalt noch um Leib und Leben. Dass sich der Begriff im Laufe der Zeit wandelt, ist nicht grundsätzlich negativ zu werten. Psychische Gewalt, emotionale Gewalt, verbale Gewalt: Was für eine Erleichterung, auch diesen Schmerz benennen zu können.
Doch ein Blick in die Zeitung zeigt, wie schnell der Gewaltbegriff gezückt wird, wenn es um jegliches Aufbegehren geht. Farbe an der Fassade einer Bank? Gewalt. Brennende Container? Gewalt. Stillschweigend scheint sich die Gesellschaft darauf geeinigt zu haben, dass die Gewalt elementarer Bestandteil jeder Sachbeschädigung ist. In anderen Kontexten wird mit dem Begriff zurückhaltend umgegangen. Verletzt die Polizei Menschen an Leib und Leben, wird ein Arsenal an amtlichen Floskeln aufgefahren, um das eine Wort zu vermeiden: Polizeigewalt. Stattdessen werden defensive Mittel wie Zahnschutz oder Schutzbrille als „passive Bewaffnung“ ausgelegt, wenn sich Demonstrant*innen damit gegen die zunehmend marzialische Aufrüstung der Polizei schützen wollen.
Das Stichwort Gewalt scheint auch zu rechtfertigen, jeglichen Kontext auszublenden und in blinde Panik zu verfallen. „Jella Haase teilt Grundgedanken der RAF“ titelte die „welt“ 2021 über die Schauspielerin. Was war geschehen? In einem Interview hatte Jella Haase gesagt: „Die RAF hat Menschen umgebracht, das darf und will ich nicht verharmlosen. Aber den Grundgedanken, die Kapitalismuskritik, den teile ich.“ Als sich 2022 Klimaaktivist*innen im Rahmen eines gewaltfreien (!) Protestes auf die Strasse klebten, fantasierte der rechte Hardliner Alexander Dobrindt (CSU) von der Entstehung einer «Klima-RAF» – soweit, so normal. Zum 50. Todestag von Holger Meins fantasiert Wolfgang Kraushaar, nicht bekannt für einen sauberen Umgang mit historischen Quellen, ohne Anhaltspunkte vor einer Zunahme von „linksextremer Gewalt“.
In Panik kann man auch verfallen, wenn man erfährt, dass eine Berner Politgruppe anlässlich des 50. Todestag des RAF Mitglieds Holger Meins eine Veranstaltung mit dem ehemaligen Mitglied der Bewegung 2. Juni Gabriele Rollnik und RAF Mitglied Karl-Heinz Dellwo durchgeführt hat. Diese drei Persönlichkeiten haben bekannterweise an einem Punkt in ihrem Leben eine Antwort auf die Gewaltfrage gefunden und sind zur Tat geschritten. Dellwo und Rollnik haben deshalb 20 bzw. 15 Jahre im Knast verbüsst, Meins bezahlte mit seinem Leben. In der Logik des Rechtstaates könnte man meinen, die Sache habe sich damit erledigt – Dellwo und Rollnik haben ihre „gerechte“ Strafe abgesessen und sich somit als vollwertige Mitglieder der Gesellschaft rehabilitiert, ein Traum der bürgerlichen Ideolgie. Ausserdem lassen beide in ihren Texten alle Interessierten an ihren persönlichen Prozessen und der Aufarbeitung ihrer Vergangenheit in der bewaffneten Bewegung teilhaben.
Doch der ganze Hintergrund spielt scheinbar keine Rolle, wenn es um „die Gewaltfrage“ geht. „Die Gewaltfrage wurde ausgeklammert“, schreibt uns ein empörter Journalist, statt die Referent*innen oder Veranstalter*innen vor Ort direkt darauf anzusprechen. Am heiss diskutierten Abend spielte die Gewalt tatsächlich eine zentrale Rolle. Schliesslich fand die Veranstaltung im Rahmen des Todestages von Holger Meins statt, der während seines Hungerstreiks im Knast zwar zwangsernährt wurde – was von Überlebenden als „Folter“ und „Vergewaltigung“ beschrieben wird – jedoch nicht ausreichend mit Kalorien versorgt wurde und deshalb in den Händen des Staates grausam starb. Thematisiert wurde auch die Isolationsfolter in Haft, das Töten an den europäischen Aussengrenzen, in der Ukraine, in Gaza.
„Eine kritische Auseinandersetzung mit dem Thema Linksterrorismus kam im Warmbächli indes nicht zustande“ schreibt besagter Journalist. Zu einseitig sei die Diskussion. Damit kommen wir der Sache immerhin auf die Spur: Es gibt also mehrere Seiten. Und es gibt mehr als nur diese eine Sicht auf die Zeit des bewaffneten Kampfes, die seit mehr als 50 Jahren unwidersprochen in den Leitmedien propagiert wird. Obschon die Mitglieder der RAF und der Bewegung 2. Juni ihre Gedanken und Beweggründe extensiv verschriftlicht haben, bezieht sich kaum ein Medienbeitrag zum Thema direkt auf die Worte der Involvierten – man redet nicht mit der RAF, man redet über sie.
Rollnik und Dellwo „blenden die Opfer des linken Terrors aus“ empört sich der Journalist weiter. Ja, was ist eigentlich mit den Opfern der RAF? Da gäbe es Hanns Martin Schleyer, SS-Offizier, SS-Untersturmführer und deutscher Arbeitgeberpräsident. Entführt und schliesslich ermordet durch die RAF. Ziel der Entführung war die Befreiung von Gefangenen in Form eines Austausches. Der Staat hat mit Schleyers Leben gespielt und ihn schliesslich geopfert. Es ist symptomatisch, dass seine SS Vergagenheit – er trat bereits 1933 in die SS ein – von den Medien einfach unter den Teppich gekehrt wurde. Dann Siegfried Buback, Generalbundesanwalt und verantwortlich dafür, dass Holger Meins im Hungestreik verstarb. Ebenfalls verantwortlich für den Prozess in Stammheim, bei welchem der sogenannte Rechtsstaat gezielt abgebaut wurde, um die Verteidigung unmöglich zu machen.
Jürgen Ponto, Vorstandssprecher der Deutschen Bank AG, geriet als Repräsentant des Kapitals ins Visier der RAF und wurde während einer missglückten Entführung erschossen. Neben wortwörtlichen Nazis, dem erklärten juristischen Feind und Bankiers wurden mehrheitlich Polizisten, Zollbeamte und US-Soldaten durch die RAF getötet, manche als definiertes Ziel einer militärischen Aktion, andere als Kollateralschäden.
Wer den Verweis auf die Opfer bemüht, wird dazu eingeladen, sich mit allen Opfern der Zeit auseinanderzusetzen. Zum Beispiel, dass die Polizei im Zuge der Fahndungen oft und schnell geschossen hat, denn es gab relativ früh sogenannte Killfandungen. Zivile Opfer durch die Polizei zeugen von dem brutalen Fahndungsapparat, über diesen wird heute kaum mehr gesprochen. Auch dem Journalisten, der sich über die fehlende Erwähnung der Opfer am 50. Todestag störte, blieb in seinem Artikel nichts anderes übrig, als auch die 1979 in Zürich erschossene Edith Kletzhändler als Opfer der RAF aufzuzählen. Das, obwohl nie endgültig geklärt werden konnte, ob der Querschläger, dem die Passantin zum Opfer fiel, von der Polizei oder der RAF abgegeben wurde. Vermutlich bot sich die Tragödie in Zürich gut an, um dank Lokalbezug das Narrativ „Es könnte jede:n treffen“ zu befeuern, ob es nun stimmt oder nicht. Heinrich Böll hat diesen Wahnsinn in seinem Buch „Die verlorene Ehre der Katharina Blum“ wunderbar beschrieben. Die zahlreichen unschuldigen Rentner*innen, welche nach der Verhaftung von Daniela Klette Polizeigewalt erleben mussten, müssen sich fast glücklich schätzen, dass die Polizei nicht direkt geschossen hat.
Dabei soll schon der Name der Bewegung 2. Juni als ewige Erinnerung dienen: Die Bullen haben zuerst geschossen. Am 2. Juni 1967 wurde Benno Ohnesorg durch Kriminalobermeister Karl-Heinz Kurras erschossen, eines von vielen Opfern der Polizeigewalt.
Als gestandener Historiker und Journalist kann man natürlich „irritiert“ sein ab dem „Schweigen der der beiden über 70-jährigen zu den eigenen Aktionen und deren Opfern“, wenn man sich nicht tatsächlich mit dem Thema auseinander gesetzt hat. Denn die Strategie und die Taten der RAF und damit auch die Opfer der RAF werden innerhalb der linksradialen Bewegung seit jeher intensiv diskutiert. Einige Aktionen wurden aus der Solidaritätsbewegung offen kritisiert und als Fehler benannt. Für viel Ablehnung innerhalb der linksradikalen Bewegung sorgte zum Beispiel die Ermordung eines US-amerikanischen GIs zur Erlangung seines Zutrittsausweises oder die Ermordung des Fahrers von Hanns Martin Schleyer. Auch nach dem Ende der RAF gab es unter ehemaligen Mitgliedern kritische Rückblicke auf einzelne Aktionen. „Die Gewaltfrage“ wurde innerhalb der mehreren RAF-Generationen seit jeher kontrovers diskutiert, Textmaterial dazu gibt es in Fülle. Es lohnt sich z.Bsp. einen Blick in das Buch „Das Projektil sind wir“ von Karl-Heinz Dellwo zu werfen um zu sehen, wie er die Botschaftsbesetzung im Rückblick betrachtet.
In unserem kapitalistischen System gilt das Recht des Stärkeren, fressen und gefressen werden. Die Antwort auf Widerstand ist Repression, die Antwort auf Fehlverhalten ist Strafe. Auf die Frage „Was ist mit den Opfern?“ hat auch der Staat keine befriedigende Antwort. Priorität hat immer die Vergeltung; Wir rufen immer nach Strafe und nie nach Versöhnung, und die Wiedergutmachung spielt neben der Vergeltung höchstens eine Nebenrolle.
An der Veranstaltung ging es, wie gesagt, um staatliche Gewalt. Denn der Staat und das kapitalistische Ausbeutungssystem beantwortet die Gewaltfrage jeden Tag: Mit den Morden von Mike Ben Peter und Roger Nzoy Willhelm, mit einer Suizidrate in Schweizer Knästen, die drei Mal höher ist als im europäischen Mittel, mit den vielen Suiziden in den Asylcamps, mit der Polizeigewalt an Demonstrationen, mit den Bomben auf Rojava, mit den tausenden von Toten an den europäischen Aussengrenzen, mit den 40’000 getöteten Menschen in Gaza, mit den Millionen von Hungerleidenden und Hungertoten weltweit, mit dem Vertuschen von NSU und NSU 2.0, mit dem Versagen, die Opfer des Terroranschlags in Hanau zu schützen – und nicht zuletzt mit dem Tod von Holger Meins. Die Antworten des Staates, des Patriarchats und des kapitalistischen Systems auf die Gewaltfrage ist einfach: Wer sich nicht unterwerfen lässt – oder der Unterdrückung auch nur lästig in den Weg kommt – muss im Zweifelsfall sterben.
Als Gegenstück der Gewalt wird im bürgerlichen Diskurs oft der Frieden gehandelt. Je mehr sich eine Bewegung dem dem bürgerlichen Narrativ und dem Imperialismus anpasst, desto mehr wird sich auf den Frieden gerufen. Doch ist „für den Frieden“ auch „gegen den Krieg“? Kwame Ture von der Black Panther Party sagt dazu: „Es gibt einen Unterschied zwischen Frieden und Befreiung, oder nicht? Es kann Ungerechtigkeit geben und es kann gleichzeitig Frieden geben… also ist Frieden nicht die Antwort, Befreiung ist die Antwort.“ Auch wir sehen Frieden und Gewalt als zwei Seiten derselben Medaille. Wer auf Frieden pocht, wo Befreiung notwendig ist, stellt sich auf die Seite der Unterdrückung. Wir wollen uns nie in einer Position wiederfinden, in der wir der Unterdrückung Hilfe leisten, in dem wir Befreiungskämpfe unter dem Zeichen des Friedens oder der Gewaltlosigkeit delegitimieren. Stattdessen wollen wir solidarisch sein und unsere Hand reichen, wo immer Menschen gegen Unrecht und Unterdrückung Widerstand leisten.
Wie stehen wir zur Gewaltfrage? Auf diese Frage wird es, hoffentlich, nie eine definitive Antwort geben. Unserer Meinung nach müssen alle Menschen, welche sich mit dem kapitalistischen System und seinen Unterdrückungsmechanismen auseinandersetzen, dies auch zwangsläufig mit der Gewaltfrage in all ihrer Komplexität tun. Im Gegensatz zum Staat, der sein Gewaltmonopol mit grossem Selbstverständnis ausübt, stellen wir uns dieser komplexen Diskussion immer wieder.