1. Mai Text: Regarde ta Rolex – c’est l’heure de la révolte!

…Oder warum uns die Rolex gestohlen bleiben kann

Dir geht es schlecht, du fühlst dich müde, ausgepowert, hast keine Kapazitäten und das Geld reicht auch nicht mehr so weit wie früher? Willkommen im Jahr 2023! Mir geht es so, dir geht es so, uns geht es so. Aber warum?
Wir stehen inmitten einer Klimakrise. Wir sehen einen grossen Krieg nur 1500km von uns entfernt und viele weitere etwas weiter weg. Die zweitgrösste Schweizer Bank fällt in sich zusammen. In Italien, Polen, Griechenland, Ungarn, Türkei ist der Faschismus wieder an der Macht. In Deutschland, Frankreich, Spanien ist er in Poleposition und wartet nur auf seinen Einsatz. Durch die Coronapandemie und den Umgang mit ihr sind wir als Gesellschaft noch mehr gespalten. Alles hat sich in den letzten Jahren verschärft, kaum etwas wurde besser. Wir arbeiten länger für weniger Geld. Alles was wir kaufen wird teurer, ebenso die Mieten, die Nebenkosten, die Krankenkasse.
Das sind wohl einige der Gründe, die uns alle treffen. Dazu kommen dann noch Krankheiten und Depressionen, Flucht in die Drogen, in eine Sucht, ständigen Stress und Burnouts, Gewalt vom Ehemann zuhause, Selbsttötungsgedanken deines jugendlichen Kindes, Angst um deinen Job, die Sorge wie du all die Rechnungen bezahlen sollst. All das führt dazu, dass wir scheinbar mehr für uns selber schauen müssen. Dass wir unsere Ellenbogen ausfahren, dass wir uns in der Konkurrenz stärker behaupten müssen. Es führt dazu, dass Schweizer*innen ihr Privileg des roten Passes gegen alle anderen ausspielen, die dieses künstlich geschaffene Privileg nicht haben. Es führt dazu, dass man keine Zeit oder Geduld mehr hat, dass man sich gegenseitig nicht mehr hilft. Da fast alle weniger haben, haben wir auch mehr Angst, dass man uns etwas wegnimmt. Wir fordern mehr Kontrolle, ja sogar wir selbst kontrollieren mehr. Es wird nach der harten Hand geschrien, die sich um die Grenzen, um Zuwanderung, um den Schutz des Eigentums kümmern soll. Diese Situation ist für unsere Feinde wie gemacht. Sie sind zwar verantwortlich für unsere Misere, jedoch wissen sie bestens wie sie damit umgehen können. Sie schüren die Spaltung, sie wollen, dass du dich allein fühlst, sie schüren den Hass und sie schüren die Ängste. Sie wollen uns das Gefühl geben, dass es nur uns so schlecht geht, dass wir selber schuld sind. Sie wollen, dass wir einander nicht vertrauen. Sie wollen uns in einer ständigen Konkurrenz. Sie wollen Männer, die Frauen gewalttätig unterdrücken. Sie wollen Rassist*innen, die gegen Migrant*innen hetzten. All diese Gewalt wollen sie, da sie ihnen dient ihre Macht zu festigen. Das Beste was wir an diesem ersten Mai machen können, ist uns bewusst werden wer unsere Freund*innen sind und im Gegensatz dazu auch, wer unsere Wut, unseren Zorn und unseren Hass abbekommen soll. Ist es der Nachbar, die Arbeitskollegin und die Migrantin am Bahnhof? Oder ist es doch eher der Verwaltungsratspräsident, der Politiker und deine Chefin? Wer nutzt dich aus, wer setzt dich unter Druck, wer hat Millionen und Milliarden auf dem Konto? Oder um zum Motto des 1. Mai zurückzukommen, wer trägt die Rolex?


Uns kann die Rolex gestohlen bleiben. Ein so schmutziges Statussymbol hat keinen Wert für uns. Es besteht aus Gold, das unter miserablen Arbeitsbedingungen gewonnen wurde und es steht für einen Luxus, der nur möglich ist, wenn der grösste Teil der Welt weiterhin unterdrückt und ausgebeutet wird. Ein Luxus der nur durch die kompromisslose Ausbeutung und Zerstörung der Umwelt erzeugt werden kann. Nein, dieser Luxus löst bei uns kein Begehren aus, er widert uns an, er kriegt unsere Faust oder unseren Hammer zu spürten.
Soviel zu den Feind*innen, kommen wir zu unseren Freundinnen, zu unseren Kameradinnen, unseren Genossinnen. Weit suchen müssen wir da nicht, es sind deine Arbeitskolleginnen mit denen du täglich so viel Zeit verbringst, es ist der Krankenpfleger im Tiefenauspital, der kurz vor der Entlassung steht weil das Spital aufgrund Profitstrebens geschlossen wird, und genau so ergeht es auch der Köchin im Spital Münsingen. Es ist die Nachbarin die aus der Holenackersiedlung fliegt, weil dort komplett saniert wird, oder die Rentnerin, die nach Jahrzehnten in den Hochhäusern an der Bahnstrasse ausziehen muss, weil ihr die Pensionskasse als Hausbesitzerin gekündigt hat, oder die Migrantin und Mutter welche aus dem Hochhaus an der Kreuzstrasse in Unterzollikofen ausziehen musste, weil dort jetzt ein ganzes Hochhaus abgerissen wird, da Investor*innen die gute Lage geschnuppert haben und es jetzt keinen Platz mehr für günstigen Wohnraum dort gibt. Deine Genossin arbeitet in der Kita, im Logistikzentrum oder zuhause mit den Kindern. Dein Genosse ist auf Jobsuche, steht an der Kasse oder programmiert Webseiten. Wir alle sind von der Gewalt dieses Systems betroffen. Wir alle spüren, dass alles so ungerecht ist. Wir alle sagen: „Geld regiert die Welt“ und wir alle haben recht damit!


Doch es kann nicht so bleiben, und die gute Antwort ist, dank uns allen, muss es nicht so bleiben! Und da lohnt sich ein Blick über unseren Horizont hinaus.

Es lohnt sich ein Blick in den Iran, wo es vor allem junge Frauen sind, die eine schier unüberwindbare patriarchale Macht ins Wanken bringen. Was vor Jahren noch undenkbar war, ist jetzt unaufhaltbar: Mädchen und Frauen zeigen mit grossem Mut täglich, dass eine neue Gesellschaft möglich ist. Gerade Lesben und andere Queers haben ein doppeltes Interesse daran, dieses Regime zum Einsturz zu bringen. Frauen, trans Menschen, queere Leute sind alle vereint im Streben nach dem freien Leben. Für diese Genoss*innen bedeutet dieser Kampf nicht nur, dass sie etwas von ihrer Freizeit opfern, sondern potenziell auch, dass sie ihre Freiheit und nicht selten auch ihr Leben opfern. Solidarität mit diesen Genossinnen heisst auch, dass wir uns von ihrem Kampfgeist inspirieren lassen und auch hier gegen unsere Unterdrückerinnen aufstehen. Dass die Schweizer Regierung diesem patriarchalen Unrechtsregime im Iran auch noch Glückwünsche sendet, ist nicht weiter erstaunlich. Schliesslich stellt sich die Schweiz auch im Kampf der Kurd*innen, insbesondere in Rojava, seit Jahren auf Seite der Unterdrücker*innen. In Rojava sehen wir, dass es möglich ist mit einer guten Organisationsstruktur und unglaublichem Einsatz sogar gegen einen Islamischen Staat zu siegen. Als wäre der Kampf gegen den IS nicht genug, wird das freiheitliche Projekt in Rojava seit Jahren von der Türkei und ihrem Präsidenten Erdogan bedroht. Rojava ist der Beweis, dass eine andere Gesellschaft möglich ist. Eine Gesellschaft frei von der Unterdrückung des Kapitalismus und Patriarchats, in der alle frei leben können, wo starre Rollenbilder durch progressive Strukturen aufgebrochen werden können. Dass in Rojava Utopie zur Realität gemacht wurde, ist eine Gefahr für autoritäre Diktatoren wie Erdogan, weshalb sie unsere Genoss*innen mit aller Macht bekämpfen. Dass die Schweizer Regierung trotzdem freundschaftliche Beziehungen zur Türkei pflegt und westliche Grossmächte wie die NATO, die sich angeblich für den Frieden einsetzen, auf Erdogans Machtspiele auch noch eingehen, zeigt, dass wir uns auf keinen Staat sondern nur auf unsere Genoss*innen verlassen können. Wie viele Bomben müssen noch auf Rojava fallen, dass auch die Schweizer Regierung merkt, dass ein Staat wie die Türkei niemals Partnerin sein darf?

Schauen wir nach Palästina, wo gerade am Freitag ein 16-jähriger Jugendlicher vom israelischen Militär erschossen wurde. Ein Teenager, der kein anderes Leben kannte als das unter militärischer Besatzung, und trotzdem begehrte er mit Steinwürfen dagegen auf. Denn auch nach Jahrzehnten der Unterdrückung, der Vertreibung, des Rassismus und der blanken Gewalt aus den Gewehrläufen wird immer noch für Freiheit und Gleichberechtigung gekämpft.

Schauen wir aktuell in den Sudan, wo sich die Bevölkerung gegen beide Seiten des neu aufgeflammten Militärputschs stellt, weil keine der zwei Parteien ihre Interessen als arbeitende Bevölkerung vertritt. Vieles was die Bevölkerung, und massgeblich die Frauen, mit ihren Protesten und Streiks 2019 erkämpft hat – wie das Verbot der Genitalverstümmelung – steht nun wieder auf dem Spiel. Auch hier müssen Ausgebeutete einmal mehr unter den Machtkämpfen der Herrschenden leiden.

Schauen wir nach Russland, wo sich Menschen gegen den Krieg vor den Kreml stellen und wo immer grössere Teile der Bevölkerung die Macht von militanten Sabotageaktionen gegen die Kriegsmaschinerie erkennen und somit auch zur Tat schreiten. Zeitgleich verschärft Putin die Haftstrafen für Sabotageakte und sogenannten Landesverrat massiv.

Schauen wir nach Abya Yala wo es neben den Mapuche und den Zapatist*innen noch so viele weitere Kämpfe gibt in denen die Gewalt der Kolonisation erfolgreich zurückgeschlagen wird. Die indigenen Bewegung in Mexiko kämpft aktuell gegen den geplanten „Tren Maya“ welche eine touristische Zugstrecke über 1500 Kilometer erschliessen will. Dieses Megaprojekt, an welchem die Deutsche Bahn stark involviert ist, bedeutet auch die Zerstörung der letzen Regenwälder Südamerikas. Zahlreiche indigene, daraunter auch die Zapatist*innen haben Widerstand gegen das Projekt angekündigt. Das Projekt ist zudem ein weiter Versuch indigene Gebiete zu militarisieren und die Widerständigen Bewegungen weiterer Repression aus zu setzten.

In all diesen Kämpfen finden wir eine wunderschöne Verbundenheit, eine tolle Genoss*innenschaft.
Begehen wir den 1. Mai in Bern aus in diesem Sinne. Nicht als Festtag, nicht als Tradition, sondern als Moment sich zusammenzufinden, sich zu orientieren, Kraft zu schöpfen und gemeinsam zu kämpfen.