Am 24. August 2023 haben wir den neuen Dokumentarfilm über die Niederländerin Tanja Nijmeijer gezeigt. Der Film zeigt Tanjas Weg in die kolumbianische Guerilla FARC-EP. Tanja hat in Kolumbien die herrschende Ungerechtigkeit als Austauschstudentin erlebt und sich entscheiden, in Kolumbien zu bleiben und sich einer Stadtguerilla-Einheit der FARC anzuschliessen. Dabei hat sie an einigen militanten Aktionen teilgenommen. Als die Gruppe aufgeflogen ist entschied sie, zur FARC-EP in den Dschungel zu gehen. Hier hat sie sich als vollwertiges Mitglied in die Reihen der FARC begeben und keine Sonderstellung genossen.
Als es zu einem Bombardement ihres Lagers kam, musste die Einheit fliehen und zahlreiche Sachen hinter sich lassen. Die kolumbianische Armee fand auch Tanjas sehr intime Tagebücher. Die Tagebücher waren für Tanja eine persönliche Methode ihre Sorgen, Ängste aber auch Kritik an der Bewegung auszudrücken. Obschon diese nie für die Öffentlichkeit bestimmt waren, wurden sie veröffentlicht und als anti FARC Propaganda aus dem Kontext gerissen und instrumentalisiert. Diese waren nie für die Öffentlichkeit bestimmt. Nach dem Auftauchen der Tagebücher wurde Tanja in den Medien als vermisst bzw. gegen ihren Willen verschleppt dargestellt. Die Medien und Eltern glaubten die FARC-EP hätte Tanja als Strafe für ihren Verrat erschossen. Das stimmte jedoch nicht, Tanja konnte das Vertrauen der Bewegung zurückgewinnen und unterstützte diese weiterhin tatkräftig. Schliesslich wird sie eine wichtige Stützte im Friedensprozess als Teil der Verhandungsdelegation der FARC-EP, welche in Kuba den Friedensvertrag mit dem kolumbianischen Staat aushandelte. Da Tanja im Rahmen der Auslieferungen dreier US-amerikanischen Soldaten für die Übersetzungen zuständig war, ist sie bis heute auf der internationalen Terrorliste der USA und kann Kolumbien nicht verlassen, ohne ihre Verhaftung zu riskieren.
Der Dokumentarfilm hat im Rahmen der Filmveranstaltung einige interessante Diskussionen ausgelöst. Wir haben den Film als sehr eindrücklich und hochwertig produziert empfunden, sehen jedoch einige Aspekte kritisch. Zum einen werden die Friedensverhandlungen mit dem kolumbianischen Staat als durchs Band positiv dargestellt, was nicht unserer Haltung entspricht. Die Situation heute zeigt, dass die Guerillas auch mit dem Friedensvertrag weiterhin verfolgt werden: Seit dem Friedensvertrag zwischen der FARC-EP und der kolumbianischen Regierung sind mehr als 200 ehemalige Guerilla Mitglieder ermordet worden. Zahlreiche haben sich wieder in den Dschungel zurückgezogen und haben neue Guerillagruppen aufgebaut. Diese kämpfen weiterhin gegen den kolumbianischen Staat. Die zweit grösste Guerilla, die ELN, befindet sich im Moment im Verhandlungsprozess mit der kolumbianischen Regierung und steht nahe einem Friedensvertrag.
Die zahlreichen rechtsextremen Paramilitärs, welche stark mit der USA und der komlumbianischen Regierung alliert sind, haben sich nicht aufgelöst. Im Gegenteil: sie massakrieren immer noch einfache Landbewohner*innen im Auftrag von der mächtigen Grossgrundbesitzer*innen. Auch die kolumbianische Armee & Polizei ist weiterhin massiv aufgerüstet und wird eingesetzt, um soziale Proteste im Land niederzuschlagen. Zudem muss darf nicht in Vergessenheit geraten, dass viele der Regionen, in denen die FARC-EP stark war, heute schlechtere Bedingungen in Sachen sozialer Gerechtigkeit haben als damals.
Etwas missverständlich und leicht übersehbar, aber dennoch entscheidend ist eine Szene im Film, die wir gerne präzsieren würden. Die Journalistin, die damals für die Veröffentlichung von Tanjas Tagebüchern veröffentlicht war, wurde im späteren Verlauf des Konflikts von Paramilitärs entführt, festgehalten und mehrfach vergewaltigt. Im Rahmen der Friedensverhandlungen tritt sie als Opfer des Konflikts auf – so entsteht leider der missverständliche Eindruck, dass sie durch die Guerilla entführt und vergewaltigt wurde. Dies ist aber nicht so – verantwortlich waren die staatlich engagierten Paramilitärs. Dass im Rahmen der Friedensverhandlungen alle Opfer des Konflikts – egal ob Opfer der Guerilla oder der Paramilitärs – gemeinsam auftraten ist ein weiterer Punkt, der unserer Meinung nach im Film kritisch hätte aufgegriffen werden müssen.
Leider zeigte der Film auch nicht auf, in welchem Ausmass die Situation in Kolumbien durch imperialistische Kräfte beeinflusst war. Die entscheidende Beteiligung der USA an diversen Staatsmassakern wurde nicht aufgezeigt. Warum die drei US-amerikanische Soldaten durch die FARC-EP festgehalten wurden, wurde vor diesem Hintergrund leider nicht eingeordnet. Wir haben den Eindruck, dass der Film an vielen Stellen eine Selbstzensur erlitten hat.
Interessant ist auch Tanjas heutige Haltung zum bewaffneten revolutionären Kampf. Auf ihre 15 Jahre im Dschungel zurückblickend, gezeichnet von Repression und dem Wissen, dass sie ihre Heimat wohl nie wieder sehen wird, kommt sie zum Schluss, dass der bewaffnete Widerstand nichts bringe. Obschon es natürlich verständlich ist, dass Tanja mit allen erbrachten Opfer in ihrer eigenen Gefühlswelt zu diesem Schluss kommt haben es die Macher*innen des Films unserer Meinung nach verpasst, an dieser Stelle den Blick auf andere bewaffnete Kämpfe auszuweiten. Dies wäre der Moment gewesen, auch die Kämpfe der Genoss*innen in Rojava, der Zapatistas in Mexiko und weitere beispiele des bewaffneten Widerstands zu benennen.
Letztendlich war der Film trotzdem ein eindrückliches Lehrstück darüber was es heisst, revolutionär zu sein. Tanjas Tagebücher zeigen den erdrückenden Zwiespalt zwischen Utopie und Realität: während sie an den Kampf gegen die Unterdrückung der FARC-EP glaubt, kritisiert sie das unsolidarische Verhalten in den eigenen Rängen. Tanja erkennt & benennt zersetzende Faktoren wie Sexismus, Gier, Korruption in den eigenen Rängen, folgt der Bewegung nicht blind. Trotzdem wird sie nicht zur Reaktionären, sie hinterfragt kritisch, ohne sich von der Bewegung abzuwenden, ihr den Rücken zu kehren oder ihr gar in den Rücken zu fallen.
Folgende weiterführende Literatur / Artikel zu Kolumbien können wir euch empfehlen:
Werner Hörtner: Kolumbien verstehen – Geschichte und Gegenwart eines zerissenen Landes
https://rotpunktverlag.ch/buecher/kolumbien-verstehen
Entstehungsgeschichte der ELN
Antonio García, Nicolás Bautista
Predigt und Patronen
Eine Geschichte der ELN Guerilla in Kolumbien
https://www.bahoebooks.net/buch/predigt-und-patronen/
Roman zur ELN
Raul Zelik: La negra
https://edition-nautilus.de/programm/la-negra/
Paramilitärs in Kolubien
Raul Zelik
Die kolumbianischen Paramilitärs – ‚Regieren ohne Staat‘ oder terroristische Formen der Inneren Sicherheit
https://www.raulzelik.net/buecher/1-kolumbianische-paramilitaers-regieren-ohne-staat-terroristische-formen-innere-sicherheit
Artikel:
Kolumbien: Gemeinsames Produzieren für den Frieden (Audio 20.06.2023)
https://amerika21.de/audio/264484
Regierung von Kolumbien und Farc-EP nehmen Verhandlungen auf (15.03.2023)
https://amerika21.de/2023/03/263113/kolumbien-verhandlungen-regierung-farc
Was ist aus der Farc geworden? (11.8.2022)
https://monde-diplomatique.de/artikel/!5871132
Eine Bilanz zu fünf Jahren Friedensabkommen von der Partei Comunes (Partei der FARC) 6.12.2021
https://amerika21.de/dokument/255845/kolumbien-comunes-friedensabkommen
Ausser Kontrolle in Kolumbien 10.06.2021
https://monde-diplomatique.de/artikel/!5775731
„FRAUEN HATTEN MACHT“
Interview mit zwei ehemalige FARC-Kämpferinnen über aufständischen Feminismus (Mai 2020)
https://lateinamerika-nachrichten.de/artikel/frauen-hatten-macht/
“CHEFS OHNE GUERILLA“
Der Konfliktforscher Diego Restrepo über die Rückkehr der FARC (Nov 2019)
https://lateinamerika-nachrichten.de/artikel/chefs-ohne-guerilla/
AM FRIEDEN VORBEI?
Die FARC-EP verkündet ihre Wiederbewaffnung (Sept/Okt 2019)
https://lateinamerika-nachrichten.de/artikel/am-frieden-vorbei/
In der roten Zone (8.8.2019)
https://monde-diplomatique.de/artikel/!5613434
“BEWEGUNGSPARTEI STATT BEWAFFNETEM KAMPF”
Die FARC-Guerilla wird zur Partei (Sept/Okt 2017)
https://lateinamerika-nachrichten.de/artikel/bewegungspartei-statt-bewaffnetem-kampf/
Stadt Land Guerillagruppen 10.12.2012
https://monde-diplomatique.de/artikel/!551476